Räume für Flüchtlinge 2016
„Räume für Flüchtlinge“
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, 14./15.7.2016
Leitung: Prof. Dr. Ute Verstegen (damals Marburg), Dr. Claudia Jahnel (FAU/MissionEineWelt) und Anne-Lore Mauer (Flüchtlingsbeauftragte Dekanat Erlangen)
Beitrag: Konzeption, Mitteleinwerbung und Durchführung (gemeinsam mit Jahnel und Maurer), eigener Vortrag (Verstegen)
Mittelgeber: Refomationsdekade 2017/„Luther in Bayern“
Info: http://infos.luther2017-bayern.de/raeume-fuer-fluechtlinge-2/
Programm
Donnerstag, 14.07.2016
11.00 h Begrüßung und Einführung: PD Dr. Claudia Jahnel (Religions- und Missionswissenschaften Erlangen / Mission EineWelt Neuendettelsau), Anne-Lore Mauer (Ev. -Luth. Dekanat Erlangen / BildungEvangelisch)
11.15 h Prof. Dr. Klaus Bieberstein (Alttestamentliche Wissenschaften, Bamberg): Jerusalem als Auffangbecken für Flüchtlinge in neuassyrischer Zeit und die Erfindung Israels
12.00 h Prof. Dr. Andreas Grüner (Klassische Archäologie, Erlangen): Kinder ziehen immer. Antike Flüchtlingsbilder als ideologische Intervention im öffentlichen Raum
Mittagspause
14.00 h Prof. Dr. Ute Verstegen (Christliche Archäologie und Byzantinische Kunstgeschichte, Marburg): Räume für Flüchtlinge – eine archäologische Spurensuche
15.15 h Prof. Dr. Bärbel Beinhauer-Köhler (Religionsgeschichte, Marburg): Kairener Moscheen als Zufluchtsorte. Auf Spurensuche in der literarischen Gattung rihla („Reisebericht“)
Pause
16.15 h Prof. Dr. Stephan Hoppe (Bayerische Kunstgeschichte, München): Wie baut man eine Stadt für Flüchtlinge? Vorschläge, Projekte und Ergebnisse nach dem Dreißigjährigen Krieg
17.00 h Prof. Dr. Martin Baumann (Religionswissenschaft, Luzern): Kuppel – Tempel – Minarett. Religiöse Bauten zugewanderter Religionen in der Schweiz
Pause mit Imbiss
18.30h Öffentlicher Input mit Podiumsdiskussion „Raum für Flüchtlinge in Erlangen“
Veranstaltungsort: Kleiner Hörsaal, Bismarckstr. 1a, Erlangen
1. Andrea Borkowski und Andreas Riemer (Zentralinstitut für Regionenforschung, Erlangen): Was Flüchtlinge brauchen? – Ein Win-Win-Projekt
2. Dr. Elisabeth Preuß (Bürgermeisterin Stadt Erlangen): Flüchtlingsunterbringung in Erlangen – kommunale Situation und Perspektive
3. Prof. Dr. Stefan-Ark Nitsche (Regionalbischof, Kirchenkreis Nürnberg): Räume und kirchliche Verantwortung
Freitag, 15.07.2016
09:00 h Hernandéz Miranda Atahualpa (Bogota, Kolumbien): Binnenvertreibung und die Konkurrenz um Wohnraum in den Slums von Bogota
09:30 h Reinhard Hansen (Mission EineWelt, Neuendettelsau): Flüchtlingsdasein in Ostafrika: perspektivlose Perspektiven
10:00 h Geraldina J. Alvarez Rocha (Nicaragua/Costa Rica): Kein Raum für Wirschaftsflüchtlinge in Costa Rica
Pause
11:00 h Dr. Andréa Vermeer (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Masar-e Scharif, Afghanistan): Vertrauen und Schutz – Gestaltungsraum und Raumgestaltung für Binnenflüchtlinge in Nordafghanistan
11.45 h PD Dr. Claudia Jahnel (Religions- und Missionswissenschaften Erlangen / Mission EineWelt Neuendettelsau): Flucht, (T)Raum und Konversion
12.30 h Schlussdiskussion
Pause
14:30 Uhr Führung durch Erlangen, eine Stadt hugenottischer Flüchtlinge
Tagungsbericht
Wenn es in Bayern einen passenden Ort gibt, das Thema der historischen und gegenwärtigen Unterbringung und Ansiedlung von Flüchtlingen aufzugreifen, dann ist es das fränkische Erlangen. Markgraf Christian Ernst erweiterte die Stadt ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert, um die vor religiöser Verfolgung aus Frankreich geflohenen protestantischen Hugenotten aufzunehmen. Seine Maßnahme verband das Ideal christlicher Nächstenliebe mit der dringenden Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung. Sie sollte sich erfüllen.
Zur Tagung „Räume für Flüchtlinge“ kamen am 14. und 15. Juli 2016 Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen unterschiedlicher Disziplinen im Gemeinschaftshaus Herz Jesu in Erlangen zum Gespräch zusammen. Mitarbeitende der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und der Philipps-Universität Marburg hatten das Treffen zusammen mit den Initiativen BildungEvangelisch, Mission EineWelt sowie dem Projektbüro der Reformationsdekade/Luther2017 initiiert.
Fragen, die in der Menschheitsgeschichte niemals an Aktualität verloren haben, standen im Zentrum: Inwiefern wurden und werden Gesellschaften durch Fluchtbewegungen verändert und welche Formen von Integration oder Ausgrenzung bringt das mit sich? Verändert die Anwesenheit und die Unterbringung von Geflüchteten Städte und Regionen in ihrem Erscheinungsbild? Wie schuf man in der Vergangenheit überhaupt einen neuen Lebensraum für Menschengruppen, die ihre Heimat verlassen mussten? Gibt es Verbindungen zu den Zeltstädten, den Flüchtlingslagern der Gegenwart, die unsere alltägliche Wahrnehmung durch die Medien beherrschen? Ein Schwerpunkt der Tagung lag, auch dies ein Bezug zum Tagungsort Erlangen, auf religiös motivierten Fluchtbewegungen.
Eine Flucht aus Glaubensgründen gab es immer und überall, ebenso die Notwendigkeit einer Unterbringung der Geflüchteten. Die Beweggründe auf Seiten der Aufnehmenden reichten hier von religiösen Geboten über soziale und politische Konvention bis hin zu wirtschaftlichen Erwägungen.
Bereits die Menschen der Antike berührte das Thema Flucht in vieler Hinsicht. So konnte es zur Grundlage einer kollektiven gesellschaftlichen Identität werden, wie Klaus Bieberstein (Universität Bamberg) in seinem Vortrag zur Stadtentwicklung Jerusalems und seiner Umgebung nach dem Zuzug von ehemaligen Bewohnern des Nordreichs Israel nach dessen Eroberung durch die Assyrer im 8. Jh. v. Chr. erläuterte. Inwiefern Herrscher die Fluchtthematik in Wort und Bild für die eigene politische Propaganda einsetzten, zeigte Andreas Grüner (Universität Erlangen) am Beispiel des römischen Kaisers Augustus. Die Archäologie kann hier vieles zum Verständnis der Bandbreite von Evakuierungen, Umsiedlungen und Vertreibungen, die antike Gesellschaften veränderten, beitragen, wie Ute Verstegen (Universität Marburg) verdeutlichte.
Oftmals war die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten oder ausländischen Gläubigen auf der Durchreise durch den Herrscher eine religiöse und standesbezogene Pflicht. Deutlich zeigten das die von Bärbel Beinhauer-Köhler (Universität Marburg) ausgewerteten Reiseberichte für Kairo im 12. Jh. Unter der Fragestellung „Wie baut man eine Stadt für Flüchtlinge?“ widmete sich Stephan Hoppe (Universität München) unterschiedlichen Konzeptionen und Umsetzungen von Migrantensiedlungen in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Auch hier hatten, wie im Fall von Erlangen, jeweils die Landesfürsten und Mächtigen die entscheidenden Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten. Martin Baumann (Universität Luzern) stellte einzelne Kultbauten zugewanderter Glaubensrichtungen in der Schweiz der Gegenwart unter dem Titel: „Kuppel – Tempel – Minarett“ vor. Die Bauten sind Zufluchts-, Glaubens- und Dienstleistungsorte für die Gemeinden und entscheidend für die Integration.
Vertreter aus Politik und Kirche betrachteten auf der abendlichen Podiumsdiskussion die räumliche Unterbringung von Flüchtlingen in Erlangen. Dabei zeigte die Erlanger Sozial-Bürgermeisterin Elisabeth Preuß auf, wo derzeit welche und wie viele Geflüchtete in Erlanger Erstaufnahme- und Wohneinrichtungen unterkommen und wie eine menschenwürdige Unterbringung auch künftig weiter gewährleistet werden kann. Dass der Kirche für die Bereitstellung und Unterhaltung entsprechender Räume eine besondere Verantwortung zukommt, erklärte Stefan-Ark Nitsche, Regionalbischof des Kirchenkreises Nürnberg.
Am zweiten Tagungstag erweiterte sich der Kreis der Vortragenden und Zuhörenden durch Teilnehmer*innen der Summer-School Neuendettelsau: Religionswissenschaftler*innen, Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Ländern. Internationale Fallbeispiele thematisierten Vertreibungen in Ostafrika, die Problematik der Entwurzelung der Binnenflüchtlinge im von bürgerkriegsähnlichen Zuständen und Konflikten zerrütteten Kolumbien sowie die Situation Costa Ricas, das als zentrales und politisch stabiles Land Zentralamerikas für Flüchtende ein häufiges Ziel ist. Die durch das Desinteresse der afghanischen Regierung erschwerte Situation von Binnenflüchtlingen in Masar-e Scharif schilderte Andréa Vermeer, vor Ort tätig für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Claudia Jahnel (Universität Erlangen/Mission EineWelt Neuendettelsau) zeigte abschließend auf, dass in der aktuellen Flüchtlingsdebatte Argumentationsmuster des 19. Jahrhunderts und westliche Überlegenheitsvorstellungen wiederbelebt werden. Wieviel Kraft aber allein für die Entscheidung zur Flucht selbst notwendig ist, werde viel zu selten thematisiert.
(Autoren: Sebastian Watta und Markus Bechtold)